An der Wand hinter meinem Schreibtisch im Homeoffice habe ich drei Bilder von selbst fotografierten Sonnenaufgängen aufgehängt. Drei Sonnenaufgänge für drei Online-Semester habe ich den Studierenden gesagt. Am Ende war auch das vierte Pandemie-Semester überwiegend online.
In diesen zwei Jahren habe ich viel gelernt über Blended Learning, Flipped Classrooms oder Agiles Lernen. Ich habe mich im Twitterlehrerzimmer umgesehen, Blogartikel gelesen, Podcasts gehört. Das Internet war im Frühjahr 2020 voll von Erfahrungsberichten, wie Lehre mit digitalen Mitteln gestaltet werden kann.
Im Frühjahr 2022 höre ich einen fast trotzigen Unterton heraus, wenn Hochschulen nun ankündigen, mit dem Sommersemester kehre man – endlich – in Präsenz zurück. Von Konzepten, wie die Gestaltungsmöglichkeiten des Digitalen in die künftige Lehre integriert werden können, höre ich wenig. Es scheint so, als bliebe es jeder und jedem Einzelnen überlassen.
Die Transformation ins Digitale macht es notwendig, bisherige Präsenzinhalte umzuarbeiten. Seminare in Präsenz sind ein steter Wechsel aus Wissensvermittlung, Übungen, Diskussion, Coaching beim Transfer des Gelernten sowie gemeinsamer Reflexion zum Endergebnis und zum Lernprozess.
Für jeden Aspekt dieses Prozesses habe ich nach geeigneten digitalen Tools gesucht, sie in meinen Lehrveranstaltungen der Crossmedialen Medienproduktion ausprobiert und daraus gelernt.
Wissen teilen in kurzen Videotutorials
Für die Vermittlung des Fachwissens habe ich meine Präsentationsfolien neu aufbereitet und vertont. Es entstanden kurze Videotutorials von etwa 15 Minuten. Das Feedback war durchweg positiv. Die Studierenden sind es gewohnt, Tutorials auf YouTube anzuschauen und sich Informationen im Internet zu suchen. Sie schätzen es, die Videos in ihrem eigenen Tempo zu einem selbst gewählten Zeitpunkt anzusehen und zurückspulen zu können, wenn etwas auf Anhieb nicht verstanden wurde. Die Dauer der Videos empfanden sie als angemessen. Es blieb genügend Zeit für die zugehörigen Übungsaufgaben.
Aber, was ist, wenn die Videos nicht angesehen werden?
Selbstverständlich kann ich weder kontrollieren noch erzwingen, dass die Studierenden die Videos auch wirklich ansehen. In Präsenzveranstaltungen kann ich aber genauso wenig garantieren, dass jede und jeder meinen Worten aufmerksam folgt. Der Vorteil der Videos ist, dass sie auch über die Vorlesung hinaus öffentlich bleiben und zu einem späteren Zeitpunkt angesehen werden können. Auch für mich war es lehrreich, meine eigenen Materialien noch besser zu strukturieren und zu recherchieren, wozu es bereits gute Tutorials und Leitfäden im Internet gibt. Es ist weder nötig noch sinnvoll, alle Inhalte selbst zu erstellen.
Wenn Wissen öffentlich geteilt wird, kann es von vielen benutzt werden.
Übersicht schaffen mit Infografik und Newsletter
Im Präsenzunterricht strukturieren die Wege von einem Hörsaal zum nächsten den Tag. Das Körpergedächtnis hilft, den Stundenplan zu verinnerlichen. Die Studierenden müssen nur der Gruppe folgen und können sich mit Fragen direkt an die Kommiliton:innen oder Lehrenden wenden. Sie wissen, dass sie alle notwendigen Informationen vor Ort erhalten.
Online verlieren wir schnell die Orientierung. Die ungezwungenen Interaktionsmöglichkeiten fehlen. Im ersten Online-Semester beklagten die Studierenden, dass sie Informationen nicht gefunden oder übersehen hätten, weil diese von Lehrenden an unterschiedlichen Orten zur Verfügung gestellt wurden, oder in der Flut von Nachrichten untergingen. Sie konnten nicht einschätzen, wie viele Inhalte noch kommen würden, und wie viel Zeit sie für die eigene Medienproduktion benötigen würden.
Daraufhin habe ich eine Infografik erstellt, die den Semesterablauf abbildet. Dazu gehören die Videokonferenztermine, die Tutorials, die Meilensteine und der jeweils geschätzte Zeitaufwand pro Einheit. Für die Studierenden bietet die Infografik Orientierung.
Mir fiel aber bald auf, dass ich in allen Kursen immer noch viele Nachrichten schrieb mit Aufgabenstellungen und Hinweisen, die ich in jedem Semester aufs Neue formulierte.
Im Wintersemester 2021/22 schrieb ich deshalb erstmals einen semesterbegleitenden Newsletter, der weitere Elemente enthält: das wöchentliche Lernziel, eine persönliche Geschichte aus der Praxis, das Stimmungsbarometer sowie weiterführende Informationen und Links. Für jeden Arbeitsschritt sind nun alle Informationen im Newsletter zusammengefasst. Von den Studierenden können sie jederzeit nachgelesen werden. Bei allgemeinen Fragen muss ich keine langen Texte formulieren, sondern kann einfach einen Link verschicken.
Wie bei den Videotutorials zwang mich der Newsletter noch einmal selbst nach weiterführenden Informationen zu suchen und genauer nachzudenken, was ich sagen und vermitteln wollte.
Kommunizieren und zusammenarbeiten via Chat
Schon vor der Corona-Pandemie war es mir wichtig, schnell und unkompliziert auch außerhalb des Stundenplans mit den Produktionsteams oder einzelnen Studierenden kommunizieren zu können. Ich kann auf diese Weise schnell und flexibel auf Fragen reagieren und bleibe sichtbar und ansprechbar. Die Studierenden sollen mit eventuellen Fragen nicht bis zur nächsten Vorlesung warten, sondern diese sofort stellen können, um an ihrer Medienproduktion weiterarbeiten zu können. Umgekehrt erlaube ich mir nachzuhaken, wenn ich das Gefühl habe, ein Team kommt nicht voran und könnte Unterstützung benötigen.
In Ermangelung eines hochschuleigenen Chat-Systems habe ich mich vor zehn Jahren mit den Studierenden auf Facebook befreundet, später haben wir via WhatsApp kommuniziert, inzwischen verwende ich eine Projektmanagement-Plattform, die eine Chat-Funktion beinhaltet.
Mein Ziel ist es nicht, dass die Studierenden am Ende des Semesters eine Medienproduktion abgeben, damit ich sie benoten kann.
Ich möchte, dass die Studierenden so lange an ihrem Produkt arbeiten, es verbessern und dadurch lernen, bis es veröffentlicht werden kann. Hierfür ist die kontinuierliche Kommunikation außerhalb des regulären Stundenplans per Chat oder Videokonferenz wichtig.
Voneinander lernen durch Transparenz
Das Konzept des Agilen Lernens oder EduScrum arbeitet unter anderem mit dem Prinzip von Transparenz. Ganz im Gegensatz zum klassischen Unterricht, der Abschreiben bei Mitlernenden bestraft, sollen die Teams voneinander lernen können und dürfen sich gegenseitig unterstützen – solange sie dies transparent machen.
Auf der Projektmanagement-Plattform erstellen sie eigene todo-Listen, laden ihre Recherchen, Konzepte oder Rohschnitte hoch, und können jederzeit untereinander Kontakt aufnehmen oder schauen, wie andere Teams die Aufgabe angehen.
Teamarbeit ermöglichen
Kaffeepausen und Flurgespräche, wie sie zwischen Kolleg:innen im Homeoffice fehlen und vermisst werden, gibt es zwischen Lehrenden und Lernenden nur ausnahmsweise. Der Dialog findet überwiegend im Lernkontext statt. Eine vertrauensvolle und konstruktive Beziehungsebene ist wichtig, Lernende wollen sich aber in der Regel nicht mit Lehrenden anfreunden oder über Privates austauschen.
Der soziale Kontakt der Studierenden untereinander dagegen sollte gestärkt werden. Aufgaben können und sollen in Teams erledigt werden. Nach meiner Erfahrung wird in der Schule und im Studium nicht gezeigt, wie Teamarbeit gelingen kann. Deshalb gebe ich Tipps und Regeln für konstruktive Teamarbeit mit. Im Falle eines Konflikts, der nicht innerhalb der Gruppe gelöst werden kann, können sich die Studierenden jederzeit an mich wenden, damit wir gemeinsam nach Lösungen suchen.
Dialog herstellen in der kostbaren Kontaktzeit
Die Kontaktzeit kann ich jetzt verwenden, um mit den Studierenden in Dialog zu gehen, sie kennenzulernen, Aufgaben zu diskutieren und ihre Medienproduktion zu begleiten.
Videokonferenzen folgen anderen Regeln als Präsenzunterricht, wo wir besser spüren, ob jemand unkonzentriert, müde oder abgelenkt ist. Ganz unmöglich wird es einzuschätzen, wenn die Videokamera des Gegenübers ausgeschaltet bleibt. Wenn wir ehrlich sind, melden sich aber auch im Präsenzunterricht nur wenige, die Mehrheit hört eher zu. Dennoch sind sie spürbar anwesend.
In Videokonferenzen ist die Stille der Mehrheit auffälliger und hinterlässt das Gefühl, man habe nicht alle erreicht. Ich habe mich deshalb gleich zu Beginn entschieden, nicht auf die Aktivität der Studierenden zu warten, sondern die Videokonferenzen so zu gestalten und zu moderieren, dass möglichst viele oder gar alle mindestens einmal zu Wort kommen.
Die Liberating Structures sind eine Sammlung von Methoden, die hierfür hilfreich sein können. Da in Videokonferenzen auch bei ausgeschalteter Kamera die Namen zu sehen sind, ist es sogar einfacher, Studierende direkt anzusprechen. Auf diese Weise bekomme ich auch von denjenigen einen Eindruck, die sich von sich aus nicht gemeldet hätten, und die ich in Präsenz vermutlich nicht aufgerufen hätte.
Da Videokonferenzen schnell ermüdend sind, habe ich die Kontaktzeit um die Hälfte reduziert. Die frei gewordene Zeit können die Studierenden nun für die Tutorials und Übungen verwenden.
Ich bemerke aber auch auf meiner Seite eine Veränderung. Ich muss nicht mehr zwischen der erklärenden und der moderierenden Rolle wechseln, die unterschiedliche Ansprechhaltungen erfordern. Ich kann besser zuhören und mich mehr auf die Studierenden konzentrieren.
Es fiel mir beispielsweise auf, dass sie häufig an denselben Stellen des Arbeitsprozesses hängen blieben und dachten, sie könnten es nicht. Dabei ist das Gefühl, nicht voranzukommen, bei manchen Arbeitsschritten völlig normal. Seitdem gebe ich den Studierenden ein Stimmungsbarometer mit, also mit welcher Haltung sie an eine Aufgabe herangehen sollten. Zum Beispiel aufgeschlossen bei der Themensuche, neugierig bei der Recherche, mit Durchhaltevermögen bei der Konzeption, gewissenhaft beim Feinschnitt.
Meine persönliche Überraschung war, dass die Sonnenaufgänge an meiner Wand auch auf mich eine positive Wirkung haben. Sie hängen zwar hinter mir, aber in Videokonferenzen sehe ich sie in meinem Kamerabild.