Konstruktiver Journalismus stärkt politische Kultur und Teilhabe durch lösungsorientierte, perspektivenreiche und dialogfördernde Formate. Er begegnet Vorurteilen, erklärt komplexe Themen und fördert Empathie. Trotz Herausforderungen durch soziale Medien können Journalist*innen so Resilienz und Vertrauen fördern, um die Demokratie in einer dynamischen Welt zu stärken.
Medien als Demokratieverstärker
Gegen Zukunftsängste helfen Transparenz und Kontext sowie Empathie und Achtsamkeit [81]. Journalistische Medien können Hintergründe erklären, Fakten und Ereignisse einordnen, Perspektiven von Minderheiten darstellen, Lösungen aufzeigen oder auf eine angemessene Sprache achten. Damit können sie zur Stärkung der politischen Kultur beitragen und in der Folge den Anteil politischer Teilhabe erhöhen.
Befürworter*innen des konstruktiven Journalismus verfolgen dieses Ziel. Der Begriff wurde geprägt von Ulrik Haagerup [82] und Catherine Gyldensted [83]. In Deutschland gründete sich 2022 das Bonn Institute für konstruktiven Journalismus. Es stellt Lösungen, Perspektivenreichtum und konstruktiven Dialog in den Fokus [84].
Der verzerrten Wahrnehmung entgegenwirken
Lösungsjournalismus soll dem Negativitäts-Bias und der damit einhergehenden Nachrichtenvermeidung entgegenwirken. Statt sich auf negative Aspekte eines aktuellen Problems zu fokussieren, werden evidenzbasierte Lösungsansätze aufgezeigt. Die Lösungen werden auf Übertragbarkeit und Limitationen überprüft.
Perspektivenreichtum soll dem Confirmation-Bias entgegenwirken. Themen werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet, etwa zeitlich, geografisch oder gesellschaftlich. Konstruktiver Journalismus berichtet nuanciert über komplexe Themen, berücksichtigt die Vielfalt von Menschen und Gruppen und reflektiert mögliche eigene Biases.
Der Datenjournalist Lorenz Matzat forderte 2020 seinen Berufsstand auf, sich mit dem eigenen Rassismus auseinanderzusetzen und formulierte den Begriff des vorurteilsbewussten Journalismus [85]. Helfen könne ein Anti-Bias-Ansatz [86], bei dem Journalist*innen sensibilisiert würden für ihre eigenen Vorurteile und Privilegien. Anti-Bias-Übungen helfen, sich in die realen Lebensbedingungen von minorisierten Gruppen einzufühlen und fördern soziale Empathie mit Menschen, die nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehören.
Konstruktive Dialogformate nehmen Gemeinsamkeiten statt Unterschiede in den Fokus. Sie fördern den Austausch zwischen Menschen und Gruppen, die unterschiedliche berechtigte Interessen haben. Dabei sind Journalist*innen allparteilich.
Ellen Heinrichs, die Gründerin des Bonn Institutes, hat eine Ausbildung zur Mediatorin abgeschlossen und überträgt die Techniken auf die journalistische Arbeit: Mediator*innen definierten sich als außerhalb von Konflikten stehende Dritte. Mit empathischer Zuwendung und professioneller Distanz hörten sie zu. Sie strukturierten und moderierten Gespräche so, dass alle am Konflikt Beteiligten die Interessen und Bedürfnisse der anderen besser verstehen und Konflikte selbst lösen können [87].
Konstruktiver Journalismus in der Praxis
Beispiele für Lösungsjournalismus sind die Tagesthemen-Reportagen mittendrin [88], bei denen Journalist*innen über Lösungen vor Ort in Städten und Gemeinden berichten, oder der NDR-Podcast Mission Klima – Lösungen für die Krise [89].
Beispiele für Perspektivenreichtum und konstruktiven Dialog sind die Formate der ZDF-Reihe unbubble – raus aus der eigenen Blase, rein in den Austausch! Menschen mit sehr unterschiedlichen Perspektiven und konträren Meinungen werden durch strukturierte Anleitung in Dialog gebracht, teilweise ohne Moderation. In der Reihe Sag’s mir diskutieren beispielsweise ein Landwirt und eine Abgeordnete der Grünen, ob grüne Politik der Landwirtschaft schade [90]. In einer Folge des Formats Unter Anderen diskutieren drei Frauen über die Frage, ob Care-Arbeit bezahlt werden sollte [91].
Der ARD-Forschungsdienst fasst mehrere Studien zu Nutzungserfahrungen mit konstruktivem Journalismus zusammen [92]: Konstruktive Nachrichten führten zu einem positiveren psychologischen Wohlbefinden, das die Resilienz stärken könne. Lösungsjournalismus könne dazu beitragen, dass sich Rezipient*innen eher als Teil einer Gemeinschaft wahrnehmen und damit eher bereit sind, gemeinschaftliche Interessen zu verfolgen. Lösungsorientierte Elemente hatten einen positiven Einfluss auf das Vertrauen in Nachrichten. Verhaltensbezogene Effekte, also dass Menschen ihr tägliches Handeln aufgrund konstruktiver Nachrichten änderten, konnten dagegen nicht eindeutig belegt werden.
Zukunftskompetenzen im Journalismus
Medienhäuser müssen sich bewusst machen, dass die Algorithmen der sozialen Medien gegen den konstruktiven Journalismus arbeiten, indem sie negative Emotionen, verkürzte oder polarisierte Darstellungen stärker verbreiten. Eine demokratiefördernde Berichterstattung wird der im Pressekodex formulierten Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit gerecht.
Auch wenn Journalist*innen die Algorithmen der sozialen Medien nicht beeinflussen können und konstruktiver Journalismus keine direkten Verhaltensänderungen bewirken kann, können sie mit einem lösungsorientierten, perspektivenreichen und dialogorientierten Journalismus die distanzierte Mitte erreichen, die politische Kultur stärken und die politische Teilhabe erhöhen.
Journalist*innen benötigen dafür neben ihrem bisherigen Handwerkszeug weitere Zukunftskompetenzen. Sie müssen sich der psychologischen Wirkung auf die Rezipient*innen bewusst sein. Medienhäuser sollten sich im Sinne einer nutzerzentrierten Produktentwicklung die Frage stellen, wie die Gesellschaft und letztendlich die Demokratie von ihren Medienprodukten profitieren kann. In einer komplexer werdenden und sich dynamisch entwickelnden BANI-Welt werden Problemlösungskompetenz und kritisches Denken immer wichtiger.
Ellen Heinrichs zeichnet eine Vision für den Journalismus der Zukunft: „Journalist*innen helfen im Jahr 2032 den Menschen dabei, auf der Basis von Fakten über wichtige Zukunftsthemen zu diskutieren und als Gesellschaft gemeinsam gute Wege zu suchen“ [93, p. 153]. Dafür würden Medien der Zukunft Diskussionen zwischen allen Gruppen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Bevölkerung organisieren und moderieren, bei denen möglichst viele unterschiedliche Stimmen zu Wort kämen. Die Formate würden darauf abzielen, Gemeinsamkeiten und Möglichkeitsräume zu erkunden.
Quellen
[81] | S. Mauritz, BANI statt VUCA – Die neue Welt, 19. Februar 2021. |
[82] | U. Haagerup, Constructive News. Warum „bad news“ die Medien zerstören und wie Journalisten mit einem völlig neuen Ansatz wieder Menschen berühren, Salzburg: Oberauer, 2015. |
[83] | C. Gyldensted, From Mirrors to Movers: Five Elements of Positive Psychology in Constructive Journalism., GGroup Publishing, 2015. |
[84] | E. Heinrichs, „Lösungen, Perspektiven, Dialog – Warum konstruktiver Journalismus sich für Medien und Gesellschaft lohnt,“ Erstveröffentlicht durch das Grimme Institut, April 2021. |
[85] | L. Matzat, Vorurteilsbewusster Journalismus, 25. Februar 2020. |
[86] | A. Kübler, Was ist Anti-Bias? |
[87] | E. Heinrichs, Was Journalismus von der Mediation lernen kann, 10. September 2023. |
[88] | NDR, 500 Mal „mittendrin“: tagesthemen kehren zum Jubiläum an vier Orte zurück, 13. Oktober 2023. |
[89] | NDR Info, Mission Klima – Lösungen für die Krise |
[90] | ZDF, Sag’s mir: Schadet grüne Politik der Landwirtschaft?, 10. Juli 2024. |
[91] | ZDF, Unter Anderen: Sollten wir Care-Arbeit bezahlen?, 24. Januar 2024. |
[92] | U. Gleich, „Nutzungserfahrungen mit konstruktivem Journalismus,“ Media Perspektiven, Bd. 12, pp. 582-588, 2022. |
[93] | E. Heinrichs, „Hören, was ist,“ in Medien in der Klima-Krise, München, Oekom Verlag, 2022. |