Das menschliche Gehirn: Emotion und Wahrnehmung

Emotionen und kognitive Verzerrungen prägen unser Denken und Handeln – auch in der Politik und im Journalismus. Von Negativitäts- bis Confirmation-Bias: Unser Gehirn filtert Informationen auf oft unbewusste Weise. Medien beeinflussen diese Prozesse, indem sie Informationen emotional aufladen oder verzerren.

Doch es gibt Hoffnung: Unser Gehirn bleibt lernfähig. Journalist*innen können durch lösungsorientierte Berichterstattung und positive Zukunftsnarrative Verantwortung übernehmen und so Polarisierungen überwinden. Wie lassen sich Medien und ihre Inhalte bewusster gestalten, um die Gesellschaft konstruktiv zu prägen?

Verstand und Emotionen lassen sich nicht trennen

Für die Neurowissenschaftlerin Maren Urner ist Politik nicht nur die Aushandlung von Werten und Überzeugungen, sondern auch von Gefühlen [37]. Es sei neurowissenschaftlich betrachtet eine falsche Vorstellung, dass sich Verstand und Emotionen trennen ließen. Ebenso sei es nicht möglich, Persönliches und Politik getrennt voneinander zu betrachten. Erst wenn wir uns über die Gefühle klar würden, die sich hinter unseren Überzeugungen verbergen, könnten wir faktenbasiert debattieren. Wichtig sei dabei, über diese Emotionen ehrlich zu sprechen.

In der Kognitionspsychologie versteht man unter kognitiven Verzerrungen unbewusste Vorurteile sowie fehlerhafte Einschätzungen, Wahrnehmungen und Urteile. Der Cognitive Bias Codex [38] [39] beschreibt mehr als 180 dieser unbewussten Verzerrungen.

Kognitive Verzerrungen helfen unserem Gehirn, mit zu vielen Informationen umzugehen und sie zu filtern, ungenügende Informationen zu ergänzen oder zu interpretieren, unter Zeitdruck schnelle Entscheidungen zu treffen oder uns zu erinnern. Auf einige Biases möchte ich näher eingehen.

Auf Negatives reagieren wir stärker

Negativitäts-Bias [40]: Evolutionär betrachtet sichern uns kognitive Verzerrungen das Überleben. Wir haben Angst vor akuten Gefahren und soziale Ängste, die durch das Bedürfnis nach Gemeinschaft entstehen. Menschen wollen Sicherheit und unser Gehirn warnt uns vor Gefahren. Deshalb regieren wir schneller, besser und intensiver auf alles Negative.

Eine Studie analysierte anhand von über 100.000 Schlagzeilen, wie häufig Artikel im Nachrichtenportal Upworthy.com angeklickt wurden. Sie kam zu dem Ergebnis, dass bei Schlagzeilen mit einer durchschnittlichen Länge von etwa 15 Wörtern jedes negative Wort die Wahrscheinlichkeit um 2,3 Prozent steigert. Schlagzeilen mit positiven Begriffen wurden signifikant weniger häufig angeklickt [41].

wir lieben, was in unser weltbild passt

Confirmation-Bias oder Bestätigungsfehler [42]: Wir bevorzugen Informationen, die unserem Weltbild entsprechen. Das heißt, wir selektieren Nachrichten so, dass sie unsere Ansichten bestätigen. Unser Gehirn sucht nach Bestätigungen, um Energie zu sparen. Informationen, die unserem Blick auf die Welt widersprechen, bewertet es als weniger wichtig.

Es ist daher nur folgerichtig, dass Menschen lieber solche Medien konsumieren, die im Sinne ihres Weltbildes berichten. Auch Journalist*innen sind nicht frei davon, schon in der Recherche unbewusst nach Informationen zu suchen, die ihre Annahmen bestätigen.

Um dem Bestätigungsfehler entgegenzuwirken, sollten wir uns viel öfter fragen: Was wäre, wenn das Gegenteil richtig wäre? Dies entspricht dem Prinzip der Falsifikation [43], das in der Wissenschaft angewandt wird. Demnach gilt eine Hypothese dann als bestätigt, wenn das Gegenteil widerlegt werden konnte.

Oft gehörtes wird eher für wahr gehalten

Illusory Truth Effekt oder Wahrheitseffekt [44]: Wir halten eine Nachricht für wahr, selbst wenn sie falsch ist, nur weil wir sie schon wiederholt gehört haben. Dieser Effekt trat bei einigen Testpersonen selbst dann auf, wenn sie Zugang zu den Fakten hatten. Aus diesem Grund können Falschinformationen, Gerüchte oder politische Propaganda, die sich einmal im Internet verbreitet haben, kaum durch Richtigstellungen aus der Welt geschafft werden.

Eine laute Minderheit wird für die Mehrheit gehalten

Pluralistische Ignoranz [45]: Wie wir am Beispiel der stärker gewichteten Emojis von Facebook gesehen haben, können wenige Accounts Nutzer*innen stark beeinflussen. Indem sie viel Aufmerksamkeit erzeugen, entsteht der Eindruck, dass viele Menschen deren Meinung zustimmen. Dadurch entstehen geteilte falsche Vorstellungen von Individuen über die Gefühle, Gedanken und Handlungen anderer.

Biases und Algorithmen führen zu Polarisierung

Kognitive Verzerrungen helfen unserem Steinzeithirn dabei, Energie zu sparen. Es ist darauf trainiert, Situationen schnell einzuschätzen, ohne lange nachdenken zu müssen. Medienanbieter haben gelernt, diese Schwächen – die uns evolutionär das Überleben sicherten – auszunutzen, indem sie beispielsweise Informationen emotional aufladen, oder indem sie Nachrichten vereinfacht ohne Kontext wiedergeben. 

In der Folge lässt sich eine Polarisierung von Meinungen beobachten. Algorithmen spielen Inhalte aus, die dem eigenen Weltbild entsprechen. Menschen werden immer weniger mit Ansichten konfrontiert, die sie nicht teilen, und sie kommen darüber immer weniger in Diskurs. Biases können also nicht einfach überwunden werden, wir müssen bewusst innehalten und unser Handeln und Denken reflektieren.

Wie wir biases entgegenwirken können

Die gute Nachricht ist: Unser Gehirn kann lebenslang lernen. Durch unsere Umgebung, unsere Erlebnisse und die Geschichten, die wir uns erzählen, wird es ständig beeinflusst. Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner erklärt, dass eine objektive Informationsverarbeitung unmöglich sei, weil unser Gehirn jede Information interpretiere. Journalist*innen müssten sich ihrer immensen Verantwortung bewusst werden, dass „jede Information die Gehirne und damit die Rezipient*innen selbst verändert“ [46, p. 93].

Medienproduzent*innen schlägt Urner drei Punkte vor, um dem Negativitäts-Bias entgegenzuwirken und die Gehirne von Rezipient*innen positiv zu beeinflussen [47]: Statt darüber zu sprechen, wer Schuld habe, sollten sie über Lösungen berichten und nach vorne gerichtet fragen, wie wollen wir weitermachen? Medien sollten versuchen, Gruppendenken durch Geschichten zu überwinden, indem sie neue Gruppierungen und Perspektiven aufzeigten. Außerdem sollten sie neue Geschichten über Selbstwirksamkeit erzählen. Der Mensch besitze Fantasie und Vorstellungskraft und Medien könnten mit Geschichten Zukunftsbilder erzeugen. Zukunftsforscher Matthias Horx warnt: „Wenn Gesellschaften – oder auch Individuen – ihre Zukunftsnarrative verlieren, kommt es zu Regressionen, Aggressionen, Sinnkrisen und Kulturkämpfen“ [48].

Quellen

[37]M. Urner, Radikal Emotion – Wie Gefühle Politik machen, München: Droemer, 2024.
[38]J. M. III, Cognitive Bias Codex (Grafik), 5. September 2016.
[39]B. Benson, Cognitive bias cheat sheet, 1. September 2016.
[40]A. Dijksterhuis und H. Aarts, „On Wildebeests and Humans: The Preferential Detection of Negative Stimuli,“ Psychological Science, Bd. 14, Nr. 1, 14-18, 2003.
[41]C. E. Robertson, N. Pröllochs, K. Schwarzenegger, P. Pärnamets, J. J. Van Bavel und S. Feuerriegel, „Negativity drives online news consumption,“ Bd. 7, p. 812–822, 2023.
[42]J. Klayman, „Varieties of Confirmation Bias,“ Psychology of Learning and Motivation, Bd. 32, p. 358–418, 1995.
[43]K. Popper, „Science as Falsification,“ Conjectures and Refutations, Bd. 1 , pp. 33-39, 1963.
[44]L. K. Fazio, N. M. Brashier, B. K. Payne und E. J. Marsh, „Knowledge does not protect against illusory truth,“ Journal of Experimental Psychology: General, Bd. 144, pp. 993-1002, 2015.
[45]H. J. O’Gorman, „The discovery of pluralistic ignorance: An ironic lesson.,“ Journal of the History of the Behavioral Sciences, Bd. 22(4), p. 333–347, 1986.
[46]M. Urner, „Relevanz, Framing und Konstruktiver Journalismus,“ in Medien in der Klima-Krise, München, Oekom Verlag, 2022.
[47]M. Urner, Prof. Dr. Maren Urner · Schluss mit dem täglichen Weltuntergang, 13. September 2023.
[48]M. Horx (Hrsg.), beyond 2024, Frankfurt am Main: The Future:Project, 2023.