Wie kann Demokratie gelebt und erlernt werden? Gerhard Himmelmann betont die Bedeutung von Ich-, sozialen und Demokratie-Kompetenzen. Diese Fähigkeiten fördern nicht nur Wissen über politische Systeme, sondern auch Fairness, Empathie und aktive Teilhabe.
In einer beschleunigten Welt sieht Hartmut Rosa Resonanz als Schlüssel: Soziale, materiale und existentielle Verbindungen stärken unser Verhältnis zur Welt. Medien und Politik können Resonanzräume schaffen, um Selbstwirksamkeit und konstruktive Debatten zu fördern – und so demokratische Kompetenzen und die stille Mitte der Gesellschaft stärken.
Demokratische Kompetenzen für alle
Wie kann Demokratie erlernt werden? Gerhard Himmelmann benennt drei Kompetenzen: Demokratie-Kompetenz, soziale Kompetenz und Ich-Kompetenz [58, p. 70]. Erstere betrachtet Demokratie als Herrschaftsform. Es wird Wissen vermittelt, wie Demokratie aufgebaut ist und wie sie funktioniert. Diese Perspektive ist eher abstrakt. Menschen haben das Gefühl, dass Politik sie nicht direkt betrifft.
Die zweite Ebene beschreibt Demokratie als Gesellschaftsform, in der Menschen an politischen Prozessen teilhaben und sich zivilgesellschaftlich engagieren. Auf diese Weise erfahren sie, wie Demokratie am konkreten Beispiel funktioniert und sie können sich im Kleinen beteiligen.
Demokratie als Lebensform schließlich meint personale, soziale und moralische Kompetenzen als demokratische Kultur. Nach Himmelmann gehören hierzu Fairness, Toleranz, Vielfalt, Chancengleichheit, Solidarität und Selbstorganisation. Zu den personalen Kompetenzen gehören ebenso Geduld, Resilienz, Achtsamkeit, Verantwortung, Empathie und Offenheit. Menschen, die über soziale Ich-Kompetenzen verfügen, sind sich bewusst, dass ihre individuelle Haltung und ihr Handeln im Alltag Teil ihrer Verantwortung für die Demokratie sind.
Himmelmanns Erziehungskonzept sieht vor, die Kompetenzen in umgekehrter Reihenfolge beizubringen, also Ich-Kompetenzen in der Grundschule, soziale Kompetenzen in Sekundarstufe I und Demokratie-Kompetenzen in Sekundarstufe II.
Die stille Mitte stärken
Es stellt sich die Frage, inwiefern davon ausgegangen werden kann, dass alle drei Kompetenzen im deutschen Schulsystem flächendeckend und vollständig vermittelt und erlernt werden. Wie könnte die Re-Edukation von Erwachsenen erfolgen, die in ihrem Werdegang nicht ausreichend soziale und Ich-Kompetenzen erworben haben?
Hier könnten Medien eine wichtige Aufgabe übernehmen, indem sie aufzeigen, dass Fragestellungen sich aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlich darstellen. In der komplexen Welt müssen Medien häufiger als früher den Kontext erklären und einordnen. Sie müssen vermitteln, dass es auf manche Fragen keine einfachen Antworten gibt, dass manchmal sowohl die eine als auch eine andere Option ihre Berechtigung hat. Bürger*innen könnten so lernen, Widersprüchlichkeiten auszuhalten und ihren Blick auf die Welt zu öffnen. Auf diese Weise könnte die stille Mitte der Gesellschaft gestärkt werden.
Vier Achsen der Resonanz
Was aber, wenn Menschen der fortschreitenden Beschleunigung der Welt, der Informationsflut, dem steigenden Leistungsdruck, den multiplen Krisen nicht mehr standhalten können, wenn sie gleichgültig oder psychisch krank werden, sich nicht mehr an demokratischen Prozessen beteiligen?
Der Soziologe Hartmut Rosa formuliert die These, dass in der beschleunigten Welt Resonanz die Lösung sein könnte [59]. Es müsse wieder darum gehen, mit der Welt in Beziehung zu treten, Dinge erfahrbar zu machen. Das gute gelingende Leben werde nicht durch unsere Ressourcen, wie Gesundheit, Geld, Gemeinschaft oder Bildung bestimmt, sondern durch die Art und Weise, wie wir mit der Welt in Beziehung treten und wie wir sie uns aneignen. Rosa beschreibt vier Achsen der Resonanz:
- Soziale Resonanz: Es bedeutet mir etwas, wenn andere etwas sagen. Ich kann andere Menschen erreichen.
- Materiale Resonanz in Form sinnstiftender Arbeit.
- Existentielle Resonanz beschreibt das Grundverhältnis zur Welt, zum Beispiel Religion, Natur oder Kunst.
- Selbstachse, mit sich selbst in Resonanz treten: Was mag ich an mir und was nicht? Geht es mir gut?
Medien haben die Art und Weise, wie wir mit der Welt in Beziehung treten, stark verändert, insbesondere digitale Medien, bei denen wir die Welt immer mehr durch den Bildschirm erfahren. Der direkte Kontakt mit der realen Welt wird immer weniger.
Politik, Gesellschaft und Medien können Resonanz zur Verfügung stellen, indem sie Bürger*innen in Resonanz bringen. Sie können Orte schaffen, an denen Menschen miteinander in Resonanz treten können. Sie können sich auf gemeinsame Werte beziehen und eine konstruktive Debattenkultur etablieren. Sie können beobachten, zuhören, bewusst machen und reflektieren. Sie können Selbstwirksamkeit und Zusammenarbeit ermöglichen und Dinge erfahrbar machen. Wenn die Resonanz gelingt, könnten so individuelle demokratische Kompetenzen gestärkt werden.
Quellen
[58] | G. Himmelmann, „Demokratie-Lernen – Eine Aufgabe moderner Schulen,“ Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik e.V.(Hrsg.), Bd. (DeGeDe)Hommage an die Demokratiepädagogik – 10 Jahre DeGeDe, Nr. S. 61-81, Berlin 2016. |
[59] | H. Rosa, Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp, 2016. |