Wie polarisiert ist die deutsche Gesellschaft wirklich? Die Studie Triggerpunkte zeigt: Konflikte existieren in Bereichen wie Armut, Migration, Anerkennung und Klimakrise, doch eine tatsächliche Spaltung gibt es nicht. Vielmehr erzeugen politische und mediale Akteure den Eindruck von Lagerbildung durch emotionalisierte Debatten.
Die stille Mitte wird oft übersehen, während extreme Ränder dominieren. Die Lösung? Mehr Offenheit für Perspektivenvielfalt und ein sachlicher Dialog, der Konsens ermöglicht – eine Aufgabe für Politik, Medien und Zivilgesellschaft gleichermaßen.
Kulturelle Wertemuster
Die Studie Next Germany – Aufbruch in die neue Wir-Gesellschaft [54] ergab 2017, dass die Deutschen mit der gesellschaftlichen Situation unzufrieden sind, die Zukunft negativ sehen und sich 89 Prozent von ihnen eine Neuorientierung wünschen. Die Umfragemethode erhebt unbewusste emotionale Resonanzen und Werte. So können kulturelle Wertemuster erkannt und analysiert werden.
Laut Studie ist die deutsche Gesellschaft in zwei Gruppen zerfallen (Abbildung 3): Die einen setzen auf Kooperation, die anderen auf individuelle Leistung und Wettbewerb. Teilweise würden sie die gleichen Begriffe verwenden, sie aber unterschiedlich interpretieren.
Menschen mit Ich-Fokus fühlten sich von denen mit Wir-Perspektive in ihrer Zukunftsentwicklung bedroht. Umgekehrt hätten Menschen mit Wir-Fokus das Gefühl, die Ich-Menschen hätten auf ihre Kosten gewonnen.
Die Autor*innen der Studie identifizieren vier aufeinanderfolgende Transformationsphasen, die den Weg in die Zukunft weisen: von den Solidargemeinschaften der Vergangenheit – konservatives Wir – über individuelle Leistung – konservatives Ich – und individuelle Gestaltungsmöglichkeiten – progressives Ich – zur Selbstentfaltung mit gesellschaftlichem Bezug – progressives Wir.
Die Studie schlägt den Wandel zu einer partizipativen Demokratie mit mehr Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie vor. Die eigentliche Funktion von Demokratie sei die eines „Werkzeugs, das Vielfalt abbildet, indem es unterschiedliche Interessen in eine Konsensform bringt“ [54, p. 13].
Vier Arenen der Ungleichheit
Die Studie Triggerpunkte [55] von Steffen Mau und Kollegen geht der Frage nach, wie polarisiert die deutsche Gesellschaft wirklich ist. Laut dem digitalen Wörterbuch für deutsche Sprache [56] wurden die Begriffe Polarisierung und Spaltung in den vergangenen Jahren immer häufiger in den Medien verwendet. Bei einer Spaltung oder Lagerbildung bewegen sich große gesellschaftliche Gruppen auseinander.
Die Studie untersuchte vier Arenen der Ungleichheitskonflikte zu dauerhaften Konfliktfeldern (Abbildung 4): Armut und Reichtum, Migration, Konflikte von Anerkennung, Teilhabe und Diskriminierung sowie die Klimakrise.
Die Ergebnisse zeigen, dass in der Oben-Unten-Arena soziale Verteilungskonflikte nicht vertikal, sondern horizontal ausgetragen werden. So würden Menschen beispielsweise nicht dafür kämpfen, dass Reiche stärker besteuert werden, sondern sie finden es ungerecht, dass Menschen, die sich in ihren Augen weniger anstrengen, das gleiche Geld erhalten sollen, siehe das Beispiel Bürgergeld.
In der Innen-Außen-Arena habe die Akzeptanz in der Gesellschaft zugenommen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Etwa 60 Prozent der Menschen würden anerkennen, dass Migration eine humanitäre Verpflichtung sei und aufgrund des Arbeitskräftemangels die Notwendigkeit von Arbeitsmigration bestehe. Der Hauptkonflikt drehe sich um die Frage, wer und wie viele Menschen ins Land kommen dürften, und wie die Integration gelingen könne.
In der Wir-Sie-Arena zeigt die Untersuchung einen sehr starken Wandel in der Gesellschaft, über 80 Prozent der Befragten zeigten sich tolerant gegenüber diversen Lebensformen. Konflikte gebe es dagegen, wenn das Anderssein zu sichtbar nach außen getragen werde oder Minderheiten besondere Rechte erhalten sollen.
In der Heute-Morgen-Arena seien 75 Prozent sehr besorgt über den menschengemachten Klimawandel. Die Konflikte würden sich hauptsächlich darum drehen, mit welcher Dringlichkeit und in welchem Ausmaß die Krise bewältigt werden solle.
(Noch) keine Spaltung der deutschen Gesellschaft
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass zwar Konfliktdimensionen vorhanden sind, eine Polarisierung in der Gesellschaft, bei der sich zwei Lager mit unterschiedlichen Einstellungen gegenüberstehen, gebe es aber nicht.
In allen vier Arenen seien über soziale Klassen hinweg große Überlappungen zu erkennen (Abbildung 5). Mau sagt, die Spaltung in der Gesellschaft sei im vorpolitischen Raum nicht vorhanden, sondern sie werde politisch und diskursiv erst erzeugt.
Politische und mediale Akteure würden Triggerpunkte bespielen. Bestimmte Themen würden nicht mehr sachlich verhandelt – was für einen Konsens notwendig wäre – sondern bewusst emotional. Die Diskussion bewege sich von der Sachpolitik hin zur Affekt-Politik. Die stille Mitte der Gesellschaft werde dabei nicht mehr wahrgenommen, die extremen Ränder würden immer lauter, deshalb entstehe der falsche Eindruck einer Lagerbildung.
Polarisierungsunternehmer
Tatsächlich sei die Politik selbst gespaltener als die Gesellschaft (Abbildung 6). In der Oben-Unten-Arena hätten die Wählerschaften eine klare Position bezüglich sozialer Gerechtigkeit. In den anderen drei Arenen befänden sich die Wählerschaften der Grünen am progressiven Ende und die der AfD am entgegengesetzten konservativen Ende der Skala. Die Wähler*innen der übrigen Parteien lägen in der Mitte nahe beieinander.
Als Polarisierungsunternehmer bezeichnen die Autoren der Studie „politische Akteure, deren Profilierung primär über die Erzeugung und Kapitalisierung polarisierter Auseinandersetzungen“ erfolge [55, p. 375]. Mau und seine Kollegen kommen zu dem Schluss, dass es eine Bereitschaft und Selbstverpflichtung der Mehrheitsgesellschaft brauche, die eigene Perspektive für andere Perspektiven und Erfahrungen zu öffnen. Neben politischen Akteuren seinen hier auch die Medien und die Zivilgesellschaft gefragt.
Quellen
[54] | K. Brühl, H. Koppel, F. Schomburg und C. Schuldt, „Next Germany – Aufbruch in die Wir-Gesellschaft,“ nextpractice-Institut für Komplexität und Wandel gGmbH, Bremen, 2017. |
[55] | S. Mau, T. Lux und L. Westheuser, Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin: Suhrkamp, 2023. |
[56] | Digitales Wörterbuch für deutsche Sprache, Wortverlaufskurven |
[57] | S. Mau, re:publica 2024: Steffen Mau – Wie polarisiert ist unsere Gesellschaft?, 28. Mai 2024. |